Das Flüstern im Gebälk – Eine Geschichte zu Halloween

Ein Haus, ein Flüstern, ein Name, der nicht vergessen werden will. In „Das Flüstern im Gebälk“ entdeckt Sophia, dass manche Geister nicht im Dunkeln lauern – sondern in uns selbst. Eine Gänsehautgeschichte über Verlust, Verdrängung und späte Vergebung.

Das Flüstern im Gebälk

Der Regen fiel in feinen, gleichmäßigen Fäden, als Sophia die letzte Kiste in den Flur stellte. Der Geruch von nassem Holz und altem Staub lag in der Luft. Über ihr knackte ein Balken, als würde das Haus tief einatmen.

„Mama, das Licht flackert wieder“, rief Ben.

„Das ist ein altes Haus, Schatz“, sagte sie und zwang sich zu einem Lächeln. „Morgen überprüfe ich die Sicherungen.“

Das Haus war über zweihundert Jahre alt. Ein Neuanfang, hatte sie gedacht. Alte Dielen, verzogene Türen, Charakter. Jetzt, in der Dunkelheit, fühlte es sich an, als würde das Haus sie beobachten. Sie hatte sich schon beim ersten Besuch in das Haus verliebt. Oder vielleicht sollte man besser sagen, sie fühlte sich von ihm angezogen, so als gehöre sie hierher. Als gelernte Restauratorin hatte sie natürlich auch die schier unzähligen Baustellen in dem alten Gebäude gesehen, aber ihr war aus irgendeinem Grund klar: Dieses Haus oder keines!

Es war Abend geworden. Die Umzugshelfer nach Hause gefahren und Sophia hatte aus schnell zusammengesuchten Vorräten ein schnelles Abendessen für sie zubereitet. Draußen heulte der Wind. Ein Ast schlug gegen die Scheibe. Im selben Moment fiel der Strom aus und Ben erschrak. Sophia zündete eine Kerze an. Ben saß zusammengekauert auf dem Sofa unter einer dicken Wolldecke, die Taschenlampe fest in der Hand.
„Können wir in deinem Zimmer schlafen? Nur heute?“

„Natürlich.“ Sophia lächelte und legte den Arm um ihn. „Aber nur heute.“

Für Ben war es der erste Umzug in eine neue Umgebung. Sophia ahnte, wie die Geräusche, die ein altes Haus nun mal von sich gab, auf den Achtjährigen wirken mussten.

Dann kam das Klopfen. Drei dumpfe Schläge von oben. Dazwischen eine Art Ticken, wie von einer Uhr. „Der Wind,“ sagte sie ungewollt hastig. „Irgendwo schlägt ein Ast gegen die Wand.“

Doch gleich darauf flüsterte etwas – ganz nah, kaum hörbar:

„Warum hast du mich vergessen?“

Die Kerze flackerte heftig, als würde jemand unsichtbar neben ihr atmen. Sophia sah hoch – ein feiner, dunkler Riss zog sich quer über die Zimmerdecke. Direkt über ihr befand sich ein dunkler, feuchter Fleck, aus dem zäh etwas heraustropfte und genau auf ihrer Hand landete, mit der sie ihren Sohn hielt. Kein Wasser. Es war rot wie Blut. Sophia bemühte sich, nicht panisch zu werden, sie stand ganz ruhig auf, tätschelte Bens schmalen Rücken und ging mit ihm zur Treppe. In ihrem Schlafzimmer legte sie ihn sanft ins Bett, deckte ihn zu und legte sich daneben.

Sie lag noch die halbe Nacht wach, die Augen starr zur Decke gerichtet.


Am Morgen war alles fort. Kein Riss, kein Fleck, kein Tropfen. Nur das Gefühl, dass das Haus sie ansah. In der Küche fand sie einen dunklen, feuchten Handabdruck auf der Anrichte, der verschwand, als sie sich näherte.

„Mama?“ Ben stand in der Tür, die Decke um die Schultern geschlungen. „Ich hab wieder die Stimme gehört. Sie hat meinen Namen gesagt.“ Sophia spürte, wie die Luft um sie herum dichter wurde. Das Ticken, das in der Nacht begonnen hatte, war wieder da – leise, gleichmäßig, von irgendwo unterm Dach.

„Ich bin noch hier,“ flüsterte es.


Nachdem sie Ben in die Schule gefahren hatte, war sie eine gefühlte Ewigkeit vor der Dachbodenluke im oberen Flur gestanden und hatte sie nur angestarrt. So lange, bis ihr der Nacken wehtat. Die Klappe öffnete sich knarrend, als sie die Stange eingehakt und feste gezogen hatte. Jahrzehntealter Staub rieselte von den Stufen. Sie tauchte ein in trockene, abgestandene Luft, die nach Holz und rostigem Eisen roch. Das Licht der Taschenlampe schnitt durch Spinnweben und Dunkel. Ein altes Metronom stand auf einer Kommode – es bewegte sich von allein.

Unter einem Tuch fand sie einen Spiegel. Alt, blind an den Rändern. Doch im Zentrum formte sich Nebel – und dann ein Gesicht. Nicht ihres.
Blass, mit offenen Augen.

„Du hast mich vergessen.“

Sophia schrie auf und presste die Hand vor den Mund. Die Taschenlampe fiel. Der Lichtkegel blieb an einer alten Wiege liegen. Darin – ein Bündel Stoff, vergilbt, mit einem kleinen Holzanhänger.
Darauf: S. Stein.


Den ganzen Tag saß sie schweigend am Tisch. Der Anhänger lag vor ihr. Ihr Name. Ihre Buchstaben. Als Ben aus der Schule kam, bemühte sie sich um Gelassenheit. Zusammen kochten sie sein Lieblingsessen, Spaghetti mit Tomatensoße und alberten herum. Ben schien das Ticken vom Dachboden nicht wahrzunehmen. Nach dem Essen setzte er sich an die Hausaufgaben, während Sophia mit einem Handwerker telefonierte und Mühe hatte, sich auf das Gespräch zu konzentrieren. Sie hatte das Gefühl, das Ticken würde mit jeder Minute lauter. Am Nachmittag kam Ben herein.

„Mama, der Junge im Garten wollte mit mir spielen. Er hat gesagt, du würdest ihn nicht mehr erkennen.“

Um Gelassenheit bemüht, ging sie zum Fenster – niemand. Nur Wind.
Aber tief in ihr zog etwas, eine Erinnerung, die lange geschwiegen hatte.

Das Metronom schlug wieder. Sie folgte dem Geräusch – doch diesmal nicht nach oben. Diesmal kam das Geräusch von irgendwo unter dem Haus. Hatte das Haus etwa einen Keller? Niemand hatte ihr etwas von einem Keller erzählt. Sie vergewisserte sich, dass Ben vor dem Fernseher saß und Cartoons schaute. Dann folgte sie dem unheimlichen Ticken. Die Unterseite der Treppe war mit einfachen Brettern vernagelt und dick mit uralter Farbe bestrichen. Sophia spürte deutlich einen kalten Luftzug. Sie klopfte gegen das Holz. Es klang eindeutig hohl. Mit einem Brecheisen entfernte sie ein paar Bretter, gerade so viel, um hindurchsehen zu können. Der Lichtkegel ihrer Taschenlampe fiel auf eine von den Zeiten vergessene und von fingerdickem Staub überzogene, steinerne Treppe, die ins Dunkle führte.

„Alles ok, Schatz“, fragte sie. Ben saß immer noch lachend vor dem Fernseher, wo Tom und Jerry herumtobten. Er hatte nichts davon mitbekommen, was sie im Flur tat und das war auch gut so! Als Ben sich zu ihr herumdrehte, legte sich für eine Sekunde ein anderes Kindergesicht über das seine und Sophia hätte fast vor Schreck geschrien.

„Klar“, sagte er und sein Gesicht war wieder normal. „Alles ok, Mama? Darf mein Freund mit mir Tom und Jerry gucken?“

„Dein … „ Sophia starrte auf das Sofa. Neben Ben zeichnete sich deutlich der Abdruck einer zweiten Person ab. Doch niemand war zu sehen. „Natürlich“, antwortete sie. Ihr Mund war staubtrocken, während sie langsam rückwärts ging. „Du … ihr könnt gerne weiter gucken. Ich hab auch zu tun.“ In der Tür drehte sie sich um. Ihr Atem ging schwer und stoßweise. Vor dem Bretterverschlag ergriff sie eine Welle des Zorns und zugleich Angst.

Ich muss das beenden!

Der Keller war kalt, die Luft feucht und schwer. Im Lichtkegel ihrer Taschenlampe tanzten Staubpartikel. Es schien durchaus nachvollziehbar, dass man ihn verschlossen hatte. In diesem Zustand war er absolut nicht nutzbar. Spinnweben klebten unter der gewölbten Decke, aus der schon ein paar kleinere Steine gefallen waren, auf dem Boden totes Getier, Käfer und verdorrte Würmer. Ein halb zerfallenes, hölzernes Vorratsregal lag in der Ecke, darunter ein längst eingetrockneter, ehemals fauliger Matsch aus Eingemachtem. Ganz am Ende des langgezogenen Raumes stand eine Holzkiste. Neben ihr das Metronom vom Dachboden mit seinem unheimlichen Ticken. Jedes Ticken ein geflüstertes Wort.

Du – hast – mich – vergessen“

Sophia Beine zitterten, nicht allein wegen der feuchten Kälte, die ihren Atem zu gespenstischen Wolken formte. Auch nicht aufgrund der unheimlichen Tatsache, dass das Metronom vom Dachboden plötzlich im Keller vor ihr stand, den vermutlich seit Jahrzehnten niemand mehr betreten hatte. Sie hatte Angst, die Kiste zu öffnen. Als sie die Hand ausstreckte, sprang der Deckel mit einem lauten Geräusch auf.

Sophia schrie.

In der Kiste lagen ein paar alte Kleidungsstücke. Ein T-Shirt, eine Jeans, eine Jacke mit Spiderman-Motiv. Ähnliche Sachen besaß Ben, aber es waren nicht seine. Plötzlich ertastete Sophie einen kleinen Gegenstand zwischen den Sachen. Ein zweiter Anhänger.

S. Stein – 2014.

Sophia erstarrte.
2014. Der Unfall. Der Regen. Die Kurve. Die kleine Hand, die nach ihr griff.

Nicht Ben.
Der andere.
Sebastian.

Tränen liefen über ihr Gesicht. „Ich wollte dich nicht vergessen,“ flüsterte sie. „Ich musste. Sonst hätte mich der Schmerz verrückt gemacht! Bitte verzeih mir!“

Die Luft vibrierte, warm, weich. Eine Stimme antwortete im gleichmäßigen Rhythmus des Metronoms.

„Ich – wollte – nur – dass – du – dich – erinnerst.“

Etwas streifte ihre Wange – wie eine kleine Hand.
Dann blieb das Metronom stehen.

Als sie in den Flur zurückkehrte, erwartete sie Ben.

„Hast du den Jungen gesehen“, fragte er aufgeregt. „Plötzlich ist er aufgestanden und war weg. Was machst du denn da? Ist da ein Keller?“

„Bestimmt ist er nach Hause gelaufen“, sagte Sophie. Sanft schob sie Ben ins Wohnzimmer, weg von dem, was im Keller war. Ihre Nase war völlig verstopft und eine Träne lief ihr über die Wange, als sie Ben übers Haar strich.

„Hast du geweint, Mama?“

„Alles in Ordnung, Schatz. Da unten ist tatsächlich ein Keller, da ist es kalt und feucht. Ich möchte nicht, dass du da runter gehst, verstanden? Wir werden ihn zumauern lassen!“

„Okay. Meinst du, der Junge kommt wieder zum Spielen?“

„Ich weiß es nicht“, antwortete Sophia mit einem Schulterzucken. „Hast du ihn gemocht?“

„Irgendwie schon.“ Ben kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe. „Der sah fast aus wie ich. Komisch, was?“


Der Novembermorgen war hell und klar. Zum ersten Mal lag kein Nebel über dem Tal. Sophia stand barfuß im Gras, das Haus hinter ihr still und friedlich. Ben lachte unter der alten Eiche. Sein Lachen war frei, rund und lebendig. Sophia drehte sich zum Haus. Oben am Dachbodenfenster glitzerte kurz ein Lichtstreif – wie Staub, der tanzt.

Kein Gesicht. Kein Schatten.
Nur das Gefühl, dass jemand ging.

Später saß sie mit Ben am Kamin, den verbliebenen Anhänger in der Hand. Der andere lag unter der Eiche begraben. Behutsam hatte sie ihm die Geschichte seines Bruders erzählt und für einen Achtjährigen hatte er es erstaunlich gefasst aufgenommen.

„Träumst du manchmal von ihm?“ fragte Ben. „Wachst du darum manchmal in der Nacht auf?“

„Ja,“ sagte sie. „Aber er hat keine Angst mehr. Und ich auch nicht.“

Draußen rauschte der Wind, sanft und warm. Und tief im Gebälk des alten Hauses ertönte ein letzter Laut – kein Klopfen, kein Flüstern, kein Ticken.

Nur ein zufriedenes Seufzen.

Das Haus war still.

Genau wie Sophia.

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